Ausgabe 1 >2019
1 2019 Esslinger Gesundheitsmagazin 39 „Was Leos Eltern erleben ist keine Seltenheit“, bestätigt Dr. Gun- ter Joas, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Esslingen. „Jugendliche in der Pubertät machen eine schwierige Phase durch, suchen nach Abgrenzung und testen ihre Grenzen aus, um ihre Identität zu entwickeln. Der Umgang mit neuen Medien führt in dieser Phase oftmals zu Konflikten in der Familie.“ Während Mädchen die sozialen Medien über Whatsapp, Instagram und Facebook intensiv nutzen, zieht es Jungen eher zu Computerspielen wie beispielsweise Fortnite. Ob und wie lange Kinder und Jugendliche diese Medien benutzen dürfen, ist ein ständiger Streitpunkt zwischen ihnen und ihren Eltern. Doch wann beginnt das Nutzungsverhalten der Jugendlichen krankhaft, also zur Sucht, zu werden? Das Krankheitsbild der Computerspielsucht als solches wird in Expertenkreisen kontrovers diskutiert. Unheimlich viele Faktoren spielen mit rein, die Unterschiede zwischen problematischem und krankhaftem Gebrauch des Computers sind fließend. „In den meisten Fällen ist die Computerspielsucht das Begleit- problem einer ganz anderen Ursache, unter welcher die Jugendlichen leiden. Hierzu gehören Erkrankungen wie Depression, Angststörungen oder auch ADHS,“ erklärt Dr. Joas. Oft steht die Frage im Raum, was davon die Ursache und was die Wirkung der exzessiven Nutzung ist: Werden Jugendliche durch die exzessive Computernutzung depres- siv und entwickeln Angststörungen oder sind die Betroffe- nen dieser Krankheitsbilder anfällig für die Computerspiel- sucht und nutzen diese als Ventil und Kompensation. Für Dr. Joas hängen beide Faktoren wesentlich zusammen. Die Erfahrung zeigt, dass die Computerabhängigkeit bei vielen Jugendlichen ein Ventil ist, um andere Themen aufzufangen bzw. sich davon abzu- lenken. Hier spielen oft familiäre Probleme eine große Rolle. Alar- mierend wird es dann, wenn die Jugendlichen nicht mehr schla- fen, die Außenkontakte zu Freunden abbrechen, bisherigen Hobbys nicht mehr nachgehen, die Schule schwänzen, lügen und sich von den familiären Beziehungen isolieren. „In solchen Fällen sollten sich die Eltern unbedingt an die Psychologischen Bera- tungsstellen im Landkreis wenden, oder direkt mit unserer Psy- chiatrischen Institutsambulanz in Verbindung setzen“, ermutigt Dr. Joas. Wenn alle Lebensbereiche des betroffenen Jugendlichen in hohem Maße beeinträchtigt sind, benötigt er Hilfe. Wie diese genau aussieht, wird für jeden Einzelfall individuell entschieden. „Wichtig ist, dass auch den Eltern geholfen wird und wir sie des- halb in die Therapie einbinden – bis hin zur Familientherapie mit Geschwistern.“ In Einzelfällen kann ein stationärer Aufenthalt sinnvoll sein. Hier werden die Jugendlichen dann für ca. acht Wochen im Klinikum Esslingen aufgenommen. Die Klinik für Kinder- und Jugendpsy- chiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Klinikum Esslin- gen verfügt über 26 stationäre Plätze verteilt auf drei altersge- trennte Stationen. Das Ambiente dort ist für die Kinder und Jugendlichen altersge- recht gestaltet. Hier erinnert nichts an eine Klinik. Die jungen Patienten wohnen in Zimmern, die die Anmutung von Kinder- bzw. Jugendzimmern haben. Es gibt Aufenthaltsbereiche mit Tischki- ckern und Sofaecken. Neben der Gemeinschaftsküche gibt es einen Sportraum, ein Musikzimmer, einen Kunst- und Kreativ- raum. Auf dem Dach der Klinik ist ein großer Wasserspielplatz mit Skaterbahn sowie ein Sportplatz mit Fußballtoren und Basket- ballkörben. In der Handygarage, die im Zimmer des in Alltagsklei- dung arbeitenden Pflegepersonals stationiert ist, werden die mobilen Geräte der Jugendlichen nachts gelagert und aufgeladen und sind in dieser Zeit tabu. Tagsüber sind sie begrenzt verfügbar und dürfen benutzt werden. Kein Verbot – bzw. kein Entzug? Dr. Joas schüttelt den Kopf: „Ein Ziel der Therapie ist es, den Jugend- lichen einen, für sie angemessenen Umgang mit den Medien bei- zubringen. Während beispielsweise Drogen im täglichen Leben gemieden werden können, ist es in einer Zeit des digitalen Wan- dels unmöglich Computer aus der Arbeits- und Alltagswelt zu verbannen.“ Daher müssen auch die betroffenen Eltern und Fami- lien mit den Jugendlichen an einem Strang ziehen. Es gilt, klare Regeln miteinander zu vereinbaren, auf die man sich verlassen kann. „Wenn die Regel lautet: Keine Medien am Esstisch, kann das auch dazu führen, dass sich der Vater morgens nicht mehr hinter seiner Zeitung versteckt darf“, beschreibt der Psychiater mögliche Vereinbarungen mit entsprechenden Konsequenzen für alle Beteiligten. „Die Eltern sind hier ganz klar in ihrer Vorbild- funktion gefragt“. Der Therapieerfolg ist individuell unterschied- lich und davon abhängig wie gut die mit der Computerspielsucht einhergehende Erkrankung (Depression, Angststörung, Zwänge) behandelt werden kann. Die Kinder und Jugendlichen lernen, acht- samer mit sich zu sein, Alarmsignale zu erkennen und damit umzu- gehen bzw. sich erneut rechtzeitig Hilfe zu holen. Wäre also Leo ein Fall für die Klinik? Besorgten Eltern, wie in Leos Fall, empfiehlt Dr. Joas, sich zunächst mit den Bedürfnissen ihres Kindes auseinanderzusetzen und mit ihm zu sprechen. Warum fasziniert es das Spiel über die Maßen? Was zieht es für sich daraus? Das Verständnis hierfür heißt nicht automatisch, dass die Faszination für die Eltern nachvollziehbar wird. Sie sind nicht seine Altersgenossen. Vielmehr sind >>> Dr. Gunter Joas Über 26 stationäre Plätze verfügt die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Klinikum Esslingen
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