Ausgabe 1 >2019

1 2019 Esslinger Gesundheitsmagazin 7 So ganz genau sind die Ursachen der Multiplen Sklerose bis heu- te nicht bekannt. Klar ist, bei der meist kurz MS genannten Er- krankung handelt es sich um eine chronisch-entzündliche Auto­ immunerkrankung, die das zentrale Nervensystem betrifft. Das heißt, das körpereigene Immunsystem, das eigentlich Entzündun- gen bekämpfen soll, löst selbst die Nervenschädigungen aus. In Deutschland sind rund 200.000 Menschen an MS erkrankt, 70 Prozent davon sind Frauen. Jährlich erkranken fünf bis sechs von 100.000 Menschen bei uns neu an Multipler Sklerose. „Damit ist MS eine vergleichsweise selten auftretende Erkrankung, die aber unter den Krankheiten, die zu einer Behinderung führen, weit oben steht“, erläutert Professor Dr. Matthias Reinhard, Chefarzt der Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie im Kli- nikum Esslingen. Zwischen 120 und 130 MS-Patienten werden in der Klinik im Schnitt pro Jahr behandelt. Oft geht es dabei um die Erstdiagnose, bei anderen Patienten auch um die Behandlung eines schweren Krankheitsschubes oder eine invasive Therapie bei einem schweren Verlauf. Weg zur Diagnose ist lang „Viele MS-Patienten sehen die Klinik aber auch jahrelang über- haupt nicht von innen, sondern werden dauerhaft von niederge- lassenen Neurologen behandelt“, sagt Dr. Tino Ahlert, niederge- lassener Neurologe aus dem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) Neurologie des Klinikums Esslingen. Oft sind diese auch die ersten Ansprechpartner, wenn der Hausarzt Anzeichen für eine MS sieht oder zum Beispiel der Augenarzt eine Augenentzündung mit MS in Verbindung bringt. Da jedoch viele Symptome auch anderen Erkrankungen zugeordnet werden können, ist der Weg bis zu einer sicheren MS-Diagnose oft lang und mit einer ganzen Reihe von Untersuchungen verbunden. Dabei spielt die Krankengeschichte eine zentrale Rolle. Um eine MS von anderen Krankheiten abzugrenzen, wurden 2001 die sogenannten McDonald-Kriterien eingeführt. „Mit der Überar- beitung der Kriterien 2005 und 2010 ist heute die Diagnosestellung etwas erleichtert“, sagt Professor Reinhard. Erste Anzeichen für MS können Gefühlsstörungen, etwa in den Beinen, sein. Auch die genannten Augenentzündungen sind häufig. Vor allem aber sind die Auswirkungen von zurückliegenden Krankheitsschüben wich- tige Indizien. Die zeigen sich bei Untersuchungen des Gehirns und des Rückenmarks im Magnetresonanztomografen (MRT) als kleine Vernarbungen. Sind mehrere ältere dieser sogenannten Läsionen feststellbar, deutet das schon stark auf eine Multiple Sklerose hin. Denn die entzündliche Erkrankung greift die Hüllzellen der Nerven- bahnen, der Neuronen, an und zerstört diese – und das lässt sich im MRT nachweisen. Auch eine Nervenwasseruntersuchung kann wei- tere Klarheit bringen. Das „Liquor“ genannte Nervenwasser wird mit einer Punktion des Rückenmarks im Bereich der Lendenwir- belsäule gewonnen. „Für die Diagnose sind oft viele Gespräche mit den Patienten über Beschwerden und den Verlauf der Erkrankung nötig“, erklärt Dr. Ahlert. Hinzu kommen die Untersuchungen im Krankenhaus. „So wird die sichere Diagnose meist im Zusammen- spiel zwischen niedergelassenem Neurologen und den Kollegen in der Klinik gestellt.“ Neue Medikamente „Die Diagnose MS trifft meist Menschen zwischen 20 und 40 Jah- ren, die voll im Leben stehen, Zukunftspläne haben und beruflich gerade durchstarten wollen“, sagt Professor Reinhard. „Für man- che ist das eine Katastrophe, manche sehen das aber auch als He- rausforderung.“ Und die erste Assoziation ist bei den meisten der Rollstuhl. Aber zumindest da können die beiden Neurologen ihre Patienten ein wenig beruhigen: „Dank moderner Behandlungsme- thoden und neuer Medikamente, die seit 20 Jahren zur Verfügung stehen, kommen rund 80 Prozent der MS-Patienten ihr Leben lang gut ohne Rollstuhl zurecht.“ Allerdings, so die Einschränkung, ist der Verlauf einer MS-Erkrankung auch heute noch nicht vorher- sehbar. Sie kann mild und moderat oder auch hochaktiv verlaufen. Wichtig ist, dass jeder Patient im Rahmen einer Langzeitthera- pie kontinuierlich von meist einem niedergelassenen Neurologen betreut wird. So profitiert er von einer durchgängigen Verlaufs- beobachtung. „Es entsteht ein langjähriges Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten, so dass auch konkrete Fragen rund um die Erkrankung, wie zum Beispiel ein Kinderwunsch, bespro- chen werden können“, berichtet Dr. Ahlert. Jeder MS-Patient erhält eine Basistherapie mit Medikamenten, die das Ziel hat, Krankheitsschübe zu verhindern oder doch wenigsten abzumildern. Interferon ist ein solches Medikament zur immun- modulatorischen Therapie. Hinter dem Begriff verbirgt sich die Fä- higkeit des Medikamentes das Immunsystem zu verändern und die Entzündungsaktivität zu hemmen. Daneben gibt es heute weitere Wirkstoffe mit ähnlichen Wirkungen, die im Gegensatz zu den nur in Spritzenform erhältlichen älteren Präparaten auch in Tabletten- form vorliegen. Bei vielen MS-Patienten zeigt eines der zur Basis- therapie zugelassenen Medikamente gute Ergebnisse mit geringen Nebenwirkungen. Was jedoch am besten wirkt, muss im Verlaufe der Therapie ausprobiert werden und manchmal ist es auch nötig, nach einiger Zeit die Basismedikation zu wechseln. >>> Dr. Tino Ahlert Professor Dr. Matthias Reinhard Wichtiges Diagnoseinstrument: Nervenwasseruntersuchung Die Untersuchung des Nervenwassers gibt wichtige Hinweise darauf, ob eine Multiple Sklerose vorliegt, denn bestimmte Antikörper imNervenwasser, dem sogenann- ten Liquor, sind für eine MS-Erkrankung typisch. Für die Untersuchung wird eine Lumbalpunktion (lateinisch Lumbus ‚Lende‘) im Bereich der Lendenwirbelsäule durchgeführt. Eine feine Hohlnadel wird dazu in den Lumbalkanal eingeführt und Nervenwasser entnommen. Die Untersuchung ist wenig schmerzhaft, so dass auf eine lokale Betäubung meist verzichtet werden kann. Schwere Komplikationen treten bei der Lumbalpunktion äußerst selten auf. Manche Patienten leiden anschlie- ßend unter Kopfschmerzen, die aber meist nach weni- gen Tagen abklingen.

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