Ausgabe 1 >2020
1 | 2020 Esslinger Gesundheitsmagazin 21 Im Aufenthaltsraum steht ein Tischkicker. Die Küche ist quietschgrün. In den Zimmern hängen selbstgebastelte Foto-Collagen, bei der Bettwäsche dominieren bunte Jugend- motive. Klinikambiente stellt man sich anders vor. Dr. Gunter Joas, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psycho somatik und Psychotherapie am Klinikum Esslingen sagt: „Wer hier auf Zeit einzieht, soll sich fühlen wie in einer großen WG.“ Eine WG für Kinder- und Jugendliche im seelischen Ausnahmezustand. Auf den drei altersgetrennten Stationen der Klinik wer- den sechs- bis 18-Jährige mit Depressionen, Angststörungen, Zwängen, selbstverletzen- dem Verhalten, Essstörungen und anderen psychischen Erkrankungen behandelt. „Wenn ein Kind oder Jugendlicher in so große seelische Not gerät, dass ein statio- närer Aufenthalt in der Psychiatrie nötig wird, bedeutet das für die ganze Familie eine hochemotionale Erfahrung. Dass es hier auf Station nicht aussieht wie in einem Krankenhaus trägt zur Entdramatisierung der Situation bei. Die wohnliche Atmo- sphäre reduziert den Stressfaktor“, erklärt Dr. Joas. Der stationäre Bereich der Klinik wurde 2015 gegründet und verfügt momentan über 26 Betten. Das Diagnostik- und Behandlungsangebot umfasst das gesamte Spektrum kinder- und jugendpsychiatri- scher Krankheitsbilder. Zum Team gehören Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten, Kunst- und Bewegungstherapeuten, Heil- erziehungspfleger sowie psychiatrisch geschulte Pflegefachkräfte. Alltagsnormalität als Teil des Behandlungskonzepts Nicht nur optisch herrscht – bewusst – viel Alltagsnormalität auf Station. Damit die meist schulpflichtigen Kinder und Jugend- lichen durch die stationäre Behandlung nicht den Anschluss verlieren, besuchen sie die Klinikschule. Das Leben in der WG- Gemeinschaft hilft, den Alltag zu bewälti- gen und neue Kompetenzen zu erwerben: Die Bewohner teilen sich Doppelzimmer, kochen zusammen und treffen sich in ihrer Freizeit auf der Dachterrasse auf dem Spiel- platz oder dem Fußballfeld. „Wer auf die Dachterasse will, muss sich aus Sicherheitsgründen vorher beim Per- sonal melden. Aber da es bei uns keine geschlossene Station gibt, sind ansonsten die meisten Türen offen und die Kinder und Jugendlichen können sich nach Absprache weitgehend frei bewegen“, erzählt Dr. Joas. Warum er das so betont? „Viele haben fal- sche Bilder im Kopf: In der Psychiatrie wer- den die Kinder weggesperrt, Psychiatrie bedeutet Endstation. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall, die Psychiatrie ist eine Chance, sie kann ein erster Schritt sein, sich von alten Verhaltensweisen zu trennen und etwas Neues auszuprobieren.“ Stationärer Aufenthalt: Chance für etwas Neues Während des stationären Aufenthalts nehmen die Kinder und Jugendlichen an Einzel- und Gruppentherapien, Kreativ- und Bewegungstherapien sowie erlebnispäda- gogischen Angeboten teil. Auch die Eltern und gegebenenfalls Geschwister kommen zu regelmäßigen Gesprächen oder Eltern- Kind-Hospitationen in die Klinik. Außerdem erfolgen nach Möglichkeit Belastungser- probungen im häuslichen Rahmen, denn „psychische Störungen eines Kindes haben oft familiäre Auslöser und betreffen immer das gesamte Familiensystem“, sagt Dr. Joas, räumt aber gleich mit einem weiteren Vor- urteil auf: „Wir verteilen keine Schuldzu- weisungen. Wir schauen uns gemeinsam an, welche Muster sich in der Familie ent- wickelt haben und wie diese durchbrochen werden können." Rechtzeitig Kontakt aufnehmen Keine Gitter, kein Abstellgleis, keine Schuld- zuweisungen – dass Dr. Joas viel daran liegt, Berührungsängste mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie abzubauen, hat einen guten Grund: Gerade bei Kindern und Jugendlichen stehen die Chancen, einer Chronifizierung entgegenzuwirken, gut, wenn eine psychische Störung rechtzeitig diagnostiziert und behandelt wird. „Das Problem ist, dass die meisten sich erst an uns wenden, wenn die Hütte schon brennt“, bedauert der Chefarzt und nennt als einen Grund, dass viele mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie „fremdeln“, sich also nicht trauen, deren Kompetenz in Anspruch zu nehmen. Noch aus einem zweiten Grund empfiehlt es sich, frühzeitig den Kontakt zur Kinder- und Jugendpsychiatrie zu suchen: Die Aus- lastung im stationären Bereich liegt in Esslingen dauerhaft bei über 100 Prozent. Einerseits ist eine so hohe Nachfrage eine Bestätigung für die Arbeit des Klinik-Teams. „Das bedeutet aber auch, dass wir nicht jeden sofort stationär aufnehmen können. Die Klinik hält Notfallplätze vor, zum Bei- spiel für suizidgefährdete oder psychotische Kinder und Jugendliche. Bei einer regulären stationären Aufnahme muss aber mit längeren Wartezeiten gerechnet werden“, berichtet Dr. Joas. Nicht nur in Esslingen gebe es solche Kapazitätsengpässe, son- dern deutschlandweit, so der Chefarzt. „Ich erzähle das nicht, um abzuschrecken, sondern um noch einmal zu ermutigen: Kontaktieren Sie uns rechtzeitig, wenn Sie das Gefühl haben, dass etwas nicht stimmt.“ PIA: Erste Anlaufstelle Wann sollten Eltern hellhörig werden? Dr. Joas schildert beispielhaft einen möglichen Verlauf einer Angststörung: „Wenn ein Grundschulkind schlecht schläft, morgens nicht mehr aufstehen will, unvermittelt weint oder sich nur schlecht von den Eltern trennt, können das erste Symptome sein. Über einen längeren Zeitraum verliert das Kind die Freude an immer mehr Tätigkeiten, es zieht sich zurück, zeigt psychosomati- sche Beschwerden wie Bauchweh oder Kopfweh oder will die Schule nicht mehr besuchen.“ Und wohin sollen verunsicherte Eltern sich wenden? „Es gibt im Kreis Esslingen mehrere mögliche erste Anlauf- stellen, von der Jugendhilfe über >>> Dr. Gunter Joas „Meine Vision von Psychiatrie ist die eines atmenden Systems, mit dem wir flexibel auf die Bedürfnisse eingehen können.“
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