Ausgabe 1 >2021

Dezember 2020. Endlich ein Licht am Ende des Tunnels. In Deutschland werden die ersten Corona-Impfstoffe zugelas- sen. Bewohner von Pflegeheimen zählen zu den am meisten gefährdetsten Bevölkerungsgruppen. Sie erhalten mit als erste die Möglichkeit, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Aufatmen, auch in Esslingen: „Und dann ging es ans Orga- nisieren. Im ersten Schritt haben wir alle unsere Bewohner über den bevorstehenden Besuch des mobilen Impfteams informiert“, erzählt Thilo Naujoks, Geschäftsführer der Städtischen Pflegeheime Esslingen und fügt hinzu: „Auch wenn viele Bewohner nicht voll begriffen, was Corona ist und was die Impfung nutzt, haben wir in der Kommunika- tion niemand außen vorgelassen.“ Einwilligungsfähig oder nicht? Für eine Corona-Impfung wie auch für jede andere medizi- nische Behandlung gilt: Der Patient muss über die Behand- lung aufgeklärt werden und in sie einwilligen. Voraussetzung ist allerdings, dass er die Bedeutung und Tragweite der ärzt- lichen Maßnahme erfassen und eine Entscheidung kommu- nizieren kann. „Im Fall der Corona-Impfung waren dazu 70 Prozent unserer Bewohner nicht in der Lage“, so Naujoks. Weil sie an einer dementiellen Erkrankung oder einer ande- ren kognitiven Beeinträchtigung litten, waren sie, so der Fachausdruck, „nicht selbst einwilligungsfähig“. Geimpft wurden die meisten von ihnen trotzdem. Wer hier einen Skandal wittert, liegt allerdings falsch. Keinen Stempel aufdrücken Je weiter fortgeschritten eine Demenz-Erkrankung, desto mehr sind Gedächtnis, Sprache, Orientierung, Auffassungs- und Denkvermögen beeinträchtigt. Nicht erst jetzt in der Corona-Pandemie stellt sich also die Frage, wie medizinische Entscheidungen im Sinne dementiell erkrankter Patienten getroffen werden können. „Es gibt dazu klare gesetzliche Vorgaben. Das fängt bei der Definition des Begriffs ‚Einwilli­ gungsfähigkeit‘ an und geht damit weiter, dass ein Arzt für jede spezifische Maßnahme diese Einwilligungsfähigkeit gesondert prüft“, sagt Naujoks und betont: „Jemand, der die Diagnose Demenz hat, bekommt also nicht automatisch und für alle Zeiten den Stempel ‚nicht einwilligungsfähig‘ aufge- drückt.“ Das entspräche auch nicht der Lebensrealität der Betroffenen. Denn wie „klar im Kopf“ ein Demenzkranker gerade ist, hängt nicht nur vom Grad der Erkrankung ab, son- dern kann auch im Tages- oder Wochenverlauf schwanken. „Ob jemand Unterstützung benötigt, hängt außerdem von der jeweiligen Entscheidungssituation ab. Ein Bewohner ist zum Beispiel noch in der Lage, die Tragweite einer Zahn­ behandlung zu erfassen. Die Konsequenzen einer Beinampu- tation sind für ihn dagegen nicht mehr greifbar“, so Naujoks. Wenn der Arzt im konkreten Fall feststellt, dass der Patient aktuell nicht einwilligungsfähig ist, muss die Genehmigung eines gesetzlichen Vertreters eingeholt werden. Zurück zum Beispiel Corona-Impfung: Was, wenn der gesetzliche Ver- treter in die Impfung einwilligt, doch der Bewohner sich weigert, sich die Spritze setzen zu lassen? Vielleicht weil er desorientiert ist oder Angst hat? „Niemand wird gezwun- gen“, so Naujoks. „Viele haben die Spritze gesehen und die Situation verstanden, einige haben gleich von selbst die Ärmel hochgerollt. Aber wenn ein Bewohner an dem Tag klar signalisiert hat, dass er nicht geimpft werden möchte, haben wir das natürlich respektiert.“ Trotzdem wurde in den fünf Häusern der Städtischen Pflege­ heime eine Impfquote von 90 Prozent (Stand Mitte Februar) erreicht. Das lag mit daran, dass viel getan wurde, um die Bewohner gut abzuholen und Angstreaktionen vorzubeugen: „Wir haben gesonderte Impftermine für diejenigen gemacht, die nicht einwilligungsfähig waren. Es wurde besonders viel Zeit eingeplant, so dass alles in ruhiger Atmosphäre ablief und die Ärzte sich auf jeden Bewohner individuell einlassen konnten. Das Impfteam hat das auch wirklich toll gemacht, man hat gemerkt, dass die Ärzte viel Erfahrung im Umgang mit Demenz haben“, berichtet Naujoks. Auch geholfen habe, dass die Pflegekräfte und Alltagsbetreuer am Tag der Imp- fung mit jedem Bewohner noch einmal aufs Neue über den anstehenden Termin sprachen. Angelegenheiten rechtzeitig regeln Der Umgang mit dementiell erkrankten Menschen gehört in den Städtischen Pflegeheimen zum Alltag. Was für die Corona-Impfung im Speziellen gilt, gilt für Naujoks auch im Allgemeinen: „Wir wollen Demenzkranken ihre Autonomie nicht absprechen und lassen ihren Willen wann immer mög- lich gelten.“ Gleichzeitig rät er jedem, der vom Thema Demenz betroffen ist, sich rechtzeitig mit der Frage auseinanderzusetzen: „Wer soll welche Entscheidungen für mich treffen, wenn ich dazu nicht mehr in der Lage bin?“ Zum Schutz von Menschen mit kognitiven Einschränkungen sieht das Gesetz vor, dass den Betroffenen ein offizieller Vertreter zur Seite gestellt wird. „Das kann ein Angehöriger oder eine Vertrauensperson sein, die vom Patienten bevollmächtigt wurde oder ein vom Gericht eingesetzter Betreuer“, erklärt Naujoks. Der Betreuer oder Bevollmächtigte regelt zum Beispiel medizinische, finanzielle und rechtliche Fragen. Dabei hat er sich stets am Wohl und Willen des Betreuten zu orientieren. Thilo Naujoks >>> Franziska Vogel Silvio Schuster 1 | 2021 Esslinger Gesundheitsmagazin 37

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