Ausgabe 1 >2024

1 | 2024 Esslinger Gesundheitsmagazin 43 Thilo Naujoks „Ich will nicht mehr“, sagt die alte Dame zu ihrer Familie. Sie hat ihre Gründe, hat lange nachgedacht und entschieden. Sie möchte gehen, selbstbestimmt und in Würde. Ob die Kinder ihr dabei wohl helfen könnten, fragt sie. Macht die Familie sich damit nicht strafbar? Nein. 2020 hat das Bundesverfassungsgericht (BVG) das „Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ aufgehoben. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasse das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, begründete das Gericht. Dabei dürfen Sterbewillige auch die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen. Nur den letzten Schritt müssen die Betroffenen selbst gehen, also zum Beispiel ein tödliches Medikament selbst einnehmen. Zurück zu der alten Dame und ihrer Familie: Die Kinder respektieren den Willen ihrer Mutter. Doch selbst Beihilfe zum Suizid leisten? Dazu fühlen sie sich nicht in der Lage. Vielleicht könnte jemand aus dem Pflegeheim, in dem die Mutter wohnt, sie unterstützen? Sie tragen dem Lieblingspfleger der Mutter ihr Anliegen vor und bitten ihn, sie im Sterben nicht alleine zu lassen. Wie wird er entscheiden? Wie umgehen mit Sterbewünschen? „Wie würden Sie entscheiden?“ Mit dieser Frage konfrontierte Susanne Kränzle, Leiterin des Hospiz Esslingen, 16 Führungskräfte der Städtischen Pflegeheimen Esslingen. Die Gruppe hatte sich im Herbst 2022 zu einem Workshop zum Thema Suizidassistenz zusammengefunden. Das Fallbeispiel der alten Dame, das Susanne Kränzle als Diskussionseinstieg wählte, war fiktiv, aber: „Jeder von uns wurde schon mit Todeswünschen von Bewohnern konfrontiert“, berichtet Pflegekoordinator Silvio Schuster. „Wenn ein Einzug ins Pflegeheim nötig wird, ist das meist ein extrem harter Einschnitt. Die Betroffenen haben Angst davor, ihre Selbstständigkeit zu verlieren, mancher fühlt sich abgeschoben, ist einsam oder muss mit dem Verlust eines geliebten Menschen klarkommen. Hinzu kommen altersbedingte Krankheiten, Schmerzen und Depressionen. In so einer Situation kann der Gedanke aufkommen: lieber sterben, als so weiterleben.“ „Wir haben im Workshop über den fiktiven Fall der alten Dame sehr intensiv diskutiert“, erinnert sich Jasmina Hasan, die in den Esslinger Pflegeheimen für die Gesundheitliche Versorgungsplanung am Lebensende zuständig ist. „Das Beispiel verdeutlicht sehr gut den inneren Konflikt, in den Pflegende beim Thema Suizidassistenz geraten können: Unser Handeln in den Städtischen Pflegeheimen ist darauf ausgerichtet, den Bewohnern ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Aber schließt das auch Suizidassistenz ein? Wie weit ist man als Pflegekraft bereit, einen solchen Weg mit einem Bewohner mitzugehen? Und wenn man mitgeht, was würde das bedeuten – für den Bewohner, für die Pflegekraft, für die Heimgemeinschaft und auch für unsere Gesellschaft?“ Der Workshop im Herbst 2022 bildete den Auftakt zu einem längeren Prozess. Über ein Jahr beschäftigten sich die Führungskräfte der Städtischen Pflegheime intensiv mit dem Thema Suizidassistenz. Die Lechler Stiftung Stuttgart förderte das Projekt finanziell. Fachliche Unterstützung bekam die Gruppe von Susanne Kränzle vom Hospiz Esslingen und Prof. Dr. Andreas Heller von der Universität Graz. „Gemeinsam mit den beiden hatten wir zuvor bereits ein sehr wertvolles Projekt zur Stärkung der Hospizkultur in den Städtischen Pflegeheimen durchgeführt“, berichtet Thilo Naujoks, Leiter der Städtischen Pflegeheime Esslingen. >>> Silvio Schuster Jasmina Hasan „ Wir verurteilen niemanden, der Suizidgedanken hat. Unsere Einrichtungen dürfen aber nicht zu Orten gewohnheitsmäßiger Suizidassistenz werden.”

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