1 | 2025 Esslinger Gesundheitsmagazin 43 Grenzsituationen In vielen Fällen geht es um Behandlungsgrenzen: Soll eine intensivmedizinische Therapie begonnen, fortgeführt oder beendet werden? Wann soll von einer kurativen, heilenden Therapie auf eine palliative Versorgung umgestellt werden? Andere Fragestellungen betreffen die Patientenautonomie: Wie soll mit dem Wunsch eines Patienten umgegangen werden, der eine Behandlung ablehnt? Oder Angehörige müssen stellvertretende Entscheidungen treffen, am Lebensbeginn für ihr Kind oder am Lebensende, wenn eine Patientin oder ein Patient sich nicht selbst äußern kann. Was tun, wenn sie unterschiedlicher Meinung sind? Standards und Schulungen Zum Arbeitsfeld des Ethikkomitees gehört es auch, Standards und Leitlinien zu entwickeln, die dem medizinischen Personal im Alltag helfen, ethisch schwierige Entscheidungen zu treffen. Zudem bildet es Mitarbeitende in ethischen Fragen fort, damit sie auf schwierige Situationen vorbereitet sind. „Unser Ethikkomitee kommt etwa sechs Mal im Jahr zusammen, um sich auszutauschen und die eigene Arbeit zu reflektieren“, so Schreiber. „Liegt ein akuter Fall bzw. eine Anfrage zur Beratung vor, zum Beispiel aus der Intensivmedizin oder der Palliativversorgung, berufen wir eine Ethik-Beratung vor Ort ein, da manche ethischen Fragen sofortige Antworten erfordern.“ Wichtige Rolle des Ethikkomitees „Der Fall von Frau Körber (siehe Kasten) zeigt, wie komplex medizinische Entscheidungen sein können, besonders wenn medizinische, rechtliche und emotionale Aspekte zusammenkommen“, sagt Schreiber. „Wir bringen als Ethikkomitee verschiedene Perspektiven ein und helfen, in schwierigen Situationen den bestmöglichen Weg zu finden – immer im Sinne der Patientin oder des Patienten.“ ast * Namen von der Redaktion geändert Klinikum Esslingen Ethikkomitee Vorsitzender: Dr. Matthias Schreiber Oberarzt Klinik für Kinder und Jugendliche – Kinderchirurgie Telefon 0711 3103-83451 m.schreiber@klinikum-esslingen.de Kontakt „ Unser Ethikkomitee kommt etwa sechs Mal im Jahr zusammen, um sich auszutauschen und die eigene Arbeit zu reflektieren.” Typischer Fall: Schwerer Schlaganfall Frau Körber* ist 72 Jahre alt und wird nach einem schweren Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert. Sie ist bewusstlos und nicht ansprechbar. Das Ärzteteam stellt fest, dass Frau Körber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu einem selbstständigen Leben zurückkehren kann. Ihr Ehemann betont, dass sie immer wieder gesagt habe, sie wolle „niemals an Maschinen hängen“. Ein schriftlicher Patientenwille (Patientenverfügung) liegt jedoch nicht vor. Die beiden erwachsenen Kinder von Frau Körber sind anderer Meinung. Sie wünschen, dass alles Mögliche getan wird, um ihre Mutter am Leben zu halten, auch bei schwerster Pflegeabhänigkeit. Wie weit soll die Behandlung gehen? Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte stehen vor einem ethischen Dilemma. Sie möchten den Wunsch der Patientin respektieren, aber ohne klare Dokumentation ist unklar, wie Frau Körber über diese konkrete Situation entschieden hätte. Gleichzeitig sehen sie, wie die Familie mit der Situation ringt. Es wird eine Sitzung des Ethikkomitees einberufen, um den Fall zu besprechen. Das Ethikkomitee berät Im Ethikkomitee schildert der behandelnde Arzt die medizinische Situation und die Prognose von Frau Körber. Die Seelsorgerin berichtet von Gesprächen mit dem Ehemann und den Kindern. Ohne Patientenverfügung orientiert sich die Entscheidung am mutmaßlichen Willen der Patientin. Zudem werden die von ärztlicher Seite für förderlich angesehenen therapeutischen Optionen geprüft. Das Komitee diskutiert: Was spricht dafür, die Therapie fortzuführen? Was spricht dagegen? Grundlage für die Entscheidungsfindung sind ethische Prinzipien wie Wohltun und Nichtschaden. Am Ende der Beratung steht eine Empfehlung: Die Ärzte sollten dem Ehemann und den Kindern nochmals die medizinischen Fakten erklären und deutlich machen, dass eine Weiterführung der Therapie wahrscheinlich nur ein Leben in schwerster Pflegeabhängigkeit ermöglichen würde. Der Ehemann wird ermutigt, seine Erinnerungen an die Werte und Wünsche seiner Frau offen zu teilen. Nach einem weiteren Gespräch mit den Ärztinnen und Ärzten und der Seelsorgerin einigen sich die Angehörigen darauf, die lebenserhaltenden Maßnahmen schrittweise zu reduzieren. Frau Körber wird auf die Palliativstation verlegt, wo sie einige Tage später verstirbt.
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