Ausgabe 2 >2018
2 2018 Esslinger Gesundheitsmagazin 25 „Das Klinikum Esslingen ist das einzige Krankenhaus im Land- kreis, das eine hochspezialisierte Onkologie und Hämatologie als eigene Fachklinik mit onkologischem Chefarzt hat und die als Dachstruktur mit dem Onkologischen Zentrum die von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifizierten Organkrebszentren koordiniert und unterstützt “, sagt Professor Geißler. „Deshalb haben wir den Anspruch an uns, selbst einen aktiven Beitrag zur modernen Krebsforschung zu leisten.“ Und das ist ihm, dem Mitverfasser der nationalen Therapieleitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft für Dickdarmkrebs, Bauchspeicheldrüsen- krebs, Leberkrebs und Magenkrebs, und seiner Klinik gelungen. Bis ins Jahr 2009 war es üblich, sogenannte sequenzielle Therapieverfahren bei Darmkrebspatienten anzuwenden. Die wirksamen vier Chemotherapie-Medikamente wurden nicht auf einmal verabreicht, sondern zeitlich nacheinander. Dahinter stand die Annahme, dass, würden alle Chemotherapie- Medikamente auf einmal gegeben werden, dem Patienten dann bei erneutem Tumorwachstum keine wirksamen Medikamente mehr zur Verfügung stehen würden. „Doch diese Annahme war falsch“, weiß der Arzt heute und erklärt weiter: „Vielmehr gewöhnten sich die Krebszellen an die Chemotherapie, entwi- ckelten sich weiter und wurden so bis zu einem gewissen Grade resistent gegen die einzelne Medikamentierung.“ Die hinter einander verabreichten Chemotherapien hatten somit nur noch eine eingeschränkte Wirkkraft. Von der Hypothese zur Studie Ab 2009/2010 kamen die ersten Ergebnisse zur sogenannten Vierfachmedikamentierung heraus. „Und siehe da, wenn man vier wirksame Chemotherapie-Medikamente auf einmal verab- reicht, sind auch die Langzeit-Überlebensdaten eher besser als bei der sequentiellen Therapie “, so Professor Geißler. Die Krebs- zellen konnten sich nicht mehr an die Medikamente gewöhnen und eine molekulare Veränderung ihrer Beschaffenheit blieb länger aus. Ein effektiver Kampf gegen den Krebs. Doch, wie Professor Geißler heute weiß, immer noch nicht effek- tiv genug. „Ich habe aus der Behandlungsoption der Vierfach- chemotherapie die Hypothese abgeleitet, dass wir durch eine zielgerichtete Immuntherapie mittels Antikörper die Hemmung des Tumorwachstums bei fortgeschrittenem Darmkrebs um zusätzlich zehn bis 15 Prozent verbessern könnten.“ Die Idee überzeugte nicht nur die Kollegen anderer renommierter Fach- zentren in Deutschland, darunter München, Ulm und Bochum, sondern auch die deutsche Krebsgesellschaft, die Professor Geißlers Studie das sogenannte AIO-Siegel gab, ein Hinweis, dass es sich um eine wissenschaftliche sinnvolle Fragestellung handelt. Laut Professor Geißler handelt es sich hier um eine investigatorinitiierten Studie. „In der Regel werden Studien von der Pharmaindustrie initiiert und finanziert. Mit dem Design und der Fragestellung dieser Studien sind wir Wissenschaftler von der DKG nicht immer einverstanden. In diesem Fall war es aber so, dass wir zuerst ohne jeden Blick auf Ökonomie eine bestimmte Fragestellung entwickelt haben, die den Fokus der Forschungsarbeit bildete. Mit dieser Fragestellung sind wir von Seiten der Wissenschaft an Unternehmen herangetreten und haben um finanzielle Unterstützung gebeten.“ Mehr als 750.000 Euro kostete die Studie. Der neue Ansatz wirkt Fortan sollten die Studienteilnehmer im Rahmen ihrer thera- peutischen Behandlung eine Medikamentenzusammensetzung aus vier Chemotherapie-Medikamenten und einem Antikörper namens Panitumumab erhalten. Auf der Krebszelle befindet sich ein Rezeptor, der als Schlüssel- loch fungiert. Leidet der Patient an einem Tumor, schließen sich an diesen Rezeptor körpereigene Eiweiße an, sogenannte Ligan- den. Der Krebszelle wird dadurch signalisiert, dass sie wachsen und sich ausbreiten soll. „Die neue Antikörperimmuntherapie setzt genau da an. Das Panitumumab dient dem Rezeptor als Schlüssel und verhindert das Eindringen der körpereigenen Eiweiße“, erklärt Professor Geißler. Der Antikörper dockt an den Rezeptor an und blockiert damit die Signalgabe der Liganden an die Krebszelle. Die Krebszelle bekommt keine „Aufträge“ mehr sich auszubreiten und verkümmert. Im besten Fall stirbt sie ganz ab. Vor der Therapie wurde die genetische Struktur der Krebs- zelle analysiert, um Veränderungen auszuschließen, die die Wirksamkeit des Antikörpers beeinträchtigen würde. Knapp 100 Patienten aus dem gesamten Bundesgebiet nahmen an der über sechs Jahre andauernden Studie teil. Die Randomi- sierungsrate lag bei 2:1. „Das heißt, dass zwei Drittel der an der Studie teilnehmenden Patienten die Chance hatten, mit der neuen Vierfachchemotherapie plus Antikörperimmuntherapie behandelt zu werden, die Übrigen erhielten die Vierfach Stan- dardchemotherapie.“ „Wir haben mit Erstaunen fest gestellt, dass bei 85 Prozent der Patienten der Tumor um mehr als 30 Prozent zurück- gegangen ist.“ >>> Professor Dr. Michael Geißler
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