Ausgabe 2 >2020

2 | 2020 Esslinger Gesundheitsmagazin 11 „Wir waren in ständiger Sorge. Wegen der Ansteckungsgefahr durfte keiner aus der Familie zu meinem Vater. Gleichzeitig waren wir täglich mit den dramatischen Fernsehbildern aus Italien konfrontiert ...“ mit den dramatischen Fernsehbildern aus Italien konfrontiert und sahen, wie dort die Corona-Toten von Armeelastwagen abtrans- portiert wurden. Das hat die Angst natürlich noch mehr befeuert.“ Was der Familie hilft, besser mit der Situation zurecht- zukommen: „Wir konnten jeden Tag mit den zuständigen Ober- ärzten telefonieren. Der Leitende Oberarzt, Dr. Guido Johannes Marquardt, hat sehr offen mit uns geredet: Wie sehen die aktu- ellen Werte aus, was bedeutet das, in welche Richtung kann sich die Lage entwickeln? Auch die Pflegekräfte hatten immer ein offenes Ohr“, sagt Dr. Balak. „Anfangs stellte ich mir die Frage: Was passiert, wenn hier in Deutschland die Beatmungskapazitäten knapp werden? Wird mein Vater dann aussortiert, weil er statistisch gesehen weni- ger Überlebenschancen hat, als ein Zwanzigjähriger, der eben- falls ein Beatmungsgerät benötigt?“ so Dr. Balak. „Die Ärzte haben mir diese Sorge schnell genommen: Ihr Vater kann so lange am Beatmungsgerät bleiben, wie nötig.“ Besserung tritt erst einmal nicht ein. Im Gegenteil. Die Lungen- funktion des Vaters ist irgendwann so massiv beeinträchtigt, dass auch die künstliche Beatmung nicht mehr ausreicht. Mehr- fach bleibt das Herz stehen, Hacibekiroglu muss wiederbelebt werden. Während eines dreistündigen Eingriffs am Ostersonn- tag entfernt Dr. Marquardt einen Blutkoagel aus der Lunge. Außerdem schließen sie den Patienten an eine externe, künst- liche Lunge, eine sogenannte ECMO, an. Das, was in der moder- nen Intensivmedizin maximal möglich ist, wird getan und das Team der Intensivstation bringt kontinuierlich vollen Einsatz, um den Patienten zu retten. Zurück ins Leben Necati Hacibekiroglu überlebt. Und erobert sich jeden Tag mehr Leben zurück. Als die Ärzte ihn aus dem künstlichen Koma auf- wachen lassen, ist er verwirrt, weiß nicht, wo er ist. „Ich hatte große Schmerzen und war zuerst so schwach, dass ich mich über- haupt nicht bewegen konnte“, erzählt er. Das Laufen muss er in den nächsten Wochen mühsam neu lernen. Ein Physiotherapeut übt tagtäglich mit ihm und er bekommt ein spezielles Bettfahr- rad ins Zimmer. „Der Physiotherapeut, der Logopäde, die Pflege- kräfte: Alle haben sich sehr gut um mich gekümmert, wenn ich etwas brauchte, war immer jemand da“ sagt Hacibekiroglu. Sein Sohn stimmt ihm zu: „Die Atmosphäre war sehr menschlich, sehr persönlich. Das Gesamtpaket der pflegerischen Betreuung hat einfach gutgetan.“ Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes lassen sich heute noch keine zuverlässigen Aussagen zu Langzeitauswirkungen einer Covid-19 Erkrankung treffen. Hoffnung macht, was Necati Hacibekiroglu von seinem letzten Arztbesuch erzählt. Inzwi- schen ist er bei der niedergelassenen Pneumologin Dr. Silke Hellmich in Esslingen in Betreuung. „Frau Dr. Hellmich hat zur Kontrolle eine Röntgenaufnahme meiner Lunge gemacht. Sie sagte, einen Marathon werde ich wohl nicht mehr laufen. Aber wenn man bedenkt, wie schwer krank ich war, hat sich die Lunge doch verhältnismäßig gut erholt.“ Eine so schwere Krankheit hinterlässt trotzdem Spuren. Hacibekiroglu kämpft immer noch mit Schmerzen, hat ein taubes Gefühl in den Beinen und Füßen: Er leidet an Polyneuropathie, einer Störung der Nerven und der Muskulatur, die nach langen Beatmungsphasen auftreten kann. Auch vieles im Alltag, was früher selbstverständlich war, ist heute immer noch ein Kraftakt. Doch inzwischen läuft Hacibe- kiroglu wieder auf eigenen Beinen, langsam und mithilfe eines Gehwagens. „Der Gehwagen kommt bei den drei Enkelkindern super an – mein Vater fährt die Kleinen darauf spazieren“, verrät Dr. Balak. Das lustige Gefährt ist aber nur Beiwerk. Die eigent­ liche, riesengroße Freude ist, dass der heißgeliebte Opa endlich wieder zurück ist. Das Glück ist beiderseitig, sagt Hacibekiroglu: „Die Kinder motivieren mich jeden Tag. Ich habe Freude am Leben.“ Die Familie ist dem gesamten Team der anästhesiologischen Inten- sivstation zutiefst dankbar. Denn ohne deren riesiges Engagement wäre diese Geschichte wahrscheinlich anders ausgegangen. lj Endlich ist der geliebte Vater und Opa zurück!

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