Ausgabe 2 >2020
Das Haus ist leer. Der Partner ist verstorben, Kinder und Enkelkinder wohnen in einer anderen Stadt. Auch Unterneh- mungen fallen nicht mehr so leicht wie früher, denn die Gesundheit macht nicht mit. Nach und nach werden die Kontakte immer weniger. Soziale Isolation im Alter ist kein Einzelfall. Insbesondere die Altersgruppe der über Achtzigjährigen ist bedroht, fanden Forscher der Ruhr-Universität Bochum heraus. Sie schätzen, dass in Deutschland rund 220.000 hochaltrige Menschen chronisch einsam sind. „Viele verbinden den Umzug ins Pflegeheim mit dem Weg in die Einsamkeit. Dabei ist es oft umgekehrt: Das Pflege- heim kann eine Chance sein, wieder Anschluss zu finden“, sagt Franziska Gangl, Koordinatorin der Sozialdienste in den Städtischen Pflegeheimen Esslingen. Wohn-Gemeinschaft „Unsere Pflegeheime bieten jede Menge Möglichkeiten, Kon- takte zu knüpfen: Die Menschen essen zusammen, es gibt gemeinsame Aufenthaltsbereiche, Fernsehecken, ein offenes Café und einen Garten. Oder man setzt sich einfach auf eine der Bänke vor dem Haus und wartet, was passiert – irgend- jemand kommt meist vorbei, mit dem man ein Schwätzchen halten kann“, zählt Franziska Gangl auf und bestätigt: „Ja, das Leben im Pflegeheim hat einen gewissen WG-Charakter.“ Wie in einer WG entstehen auch im Heim Freundschaften von ganz allein: „Eine ältere Dame holt eine andere fitte Bewohnerin regelmäßig zum Rollator-Spaziergang ab“, schil- dert Gangl. In anderen Fällen helfen die Bezugspersonen im Wohnbereich bei der Vernetzung ein wenig nach: „Die Mit- arbeiter merken beispielsweise, dass ein neuer Bewohner großen Kontaktbedarf hat, aber beim Mittagessen an einem Tisch sitzt, an dem alle lieber schweigen. Also schlagen sie demjenigen vor, sich an einen Tisch umzusetzen, an dem ebenfalls Leute sitzen, die gerne in Kontakt kommen.“ Unterstützung bei der Eingewöhnung Franziska Gangl berichtet aber auch, dass sich manche neuen Bewohner in der ersten Zeit im Heim erst einmal ins Schneckenhaus zurückziehen. Sie weiß: Der Umzug ins Pflegeheim bedeutet einen existentiellen Umbruch, der ver- arbeitet werden muss „Auf einmal schafft man es daheim nicht mehr alleine, muss raus aus dem häuslichen Umfeld. Das ist schon eine Umstellung. Und vielen der Menschen, die zu uns kommen, ist auch bewusst, dass jetzt ihre letzte Lebensphase beginnt.“ Um diese Menschen aufzufangen, wurde in den Städtischen Pflegeheimen ein spezieller Heimaufnahmeprozess erarbeitet. So wird jeder neue Bewohner beim Einzug von einer Bezugs- pflegekraft in Empfang genommen, die ihn dann in der Ein- gewöhnungsphase intensiv betreut. „Auch wir vom Sozial- dienst kommen in der ersten Woche vorbei. Wir schauen, in welcher individuellen Situation der Mensch steckt: Kommt er aus dem Krankenhaus oder von zuhause? Hat er noch Ange- hörige oder hat er niemanden mehr? Wie kommt er mit der neuen Situation klar? Welche Interessen hat die Person, was macht demjenigen Spaß? Dann überlegen wir, wie wir den Menschen am besten integrieren können“, berichtet Gangl. Nach vier Wochen findet ein zweiter Besuch des Sozial dienstes statt. „Natürlich redet man auch zwischendurch immer wieder miteinander. Bei dem zweiten Besuch fragen wir bei jedem Bewohner ganz bewusst nach, wie er sich ein- gewöhnt hat.“ Basierend auf diesen Informationen findet dann eine interdisziplinäre Fallbesprechung mit zuständigen Pflegekräften, Betreuungsassistenten und Sozialdienst statt. Welche Unterstützung ein Heimbewohner benötigt, um Anschluss zu finden, bewertet das Team von Fall zu Fall. „Manchmal sind es praktische Dinge: Jemand ist beispiels- weise nicht mobil und nimmt deswegen nicht am Sozialleben teil. Dann muss schnell ein Pflegerollstuhl organisiert werden. Ein anderer zieht sich vielleicht so stark zurück, dass auch das Hinzuziehen eines geriatrischen Facharztes notwendig sein kann.“ Auch seelsorgerische Betreuung können die Bewohner in Anspruch nehmen, angeboten von der evangelischen und katholischen Kirchengemeinde in Esslingen. Hier findet Leben statt Gegen Einsamkeit hilft auch Beschäftigung. In den Städti- schen Pflegeheimen Esslingen arbeiten auf jedem Wohnbe- reich neben den Pflegefachkräften sogenannte Betreuungs assistenten, die die Bewohner bei der Alltagsbewältigung und -gestaltung unterstützen. Franziska Gangl formuliert es so: „Die Betreuungsassistenten sorgen dafür, dass auf den Stationen Leben stattfindet.“ Dazu gehören auch tägliche, oft ganz zwanglose, Angebote zur Freizeitgestaltung: Die Bewohner kommen bei Gesellschaftsspielen oder Musik zusammen, kochen und backen miteinander. Thilo Naujoks >>> Franziska Gangl 2 | 2020 Esslinger Gesundheitsmagazin 39 „Das Pflegeheim kann eine Chance sein, wieder Anschluss zu finden.“
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