Ausgabe 2 >2020

48 Esslinger Gesundheitsmagazin 2 | 2020 Susanne Hutters „zweites Leben“ beginnt im März 1993 im Klini- kum Esslingen. Nach sechs Wochen Koma und Langzeitbeatmung kommt sie zu sich, ohne Erinnerung, ohne Orientierung. „Das Auf- wachen war eine totale Überforderung“, erinnert sie sich. „Ich habe Stimmen wahrgenommen, Silhouetten, Menschen, die kommen und gehen, mit mir reden, mich anfassen. Ich wollte das nicht. Ich wollte zurück an den Ort, an dem ich vorher war.“ Im Nachhinein versteht sie ihre Reaktion als Schutzmechanismus. „Andere ehema- lige Komapatienten haben mir ähnliche Erfahrungen geschildert.“ Susanne Hutter ist ein gesunder, junger Mensch. Im Januar 1993, mit 30 Jahren, fängt sie sich einen Infekt ein. „Eine ganz gewöhn- liche Grippe – ich machte mir keine großen Gedanken.“ Dann erleidet sie einen septischen Schock, der ein multiples Organ­ versagen auslöst. Sie schwebt in Lebensgefahr. „Ich stand im Bad, als mir schwarz vor Augen wurde und wachte sechs Wochen später auf der Intensivstation des Klinikum Esslingen auf.“ Die anfängliche Orientierungslosigkeit nach dem Koma und den Verlust ihres Erinnerungsvermögens erlebt sie als zutiefst ver- störend. „Ich wusste nicht, wer ich bin, kannte meinen eigenen Körper nicht mehr“, erzählt sie. Als große psychische Belastung empfindet sie den Luftröhrenschnitt, über den sie während des Komas beatmet wurde. Die offene Wunde am Hals und eine Ver- letzung der Stimmbänder erschweren ihr das Sprechen. Sie fühlt sich hilflos, auch weil sie sich anfangs nicht bewegen kann. Nach der langen Liegezeit sind die Muskeln erschlafft. Ein Pfleger wird in dieser schwierigen Situation zum psycholo- gischen Rettungsanker: „Kai-Uwe Dorner hat sich an mein Bett gesetzt, sich Zeit genommen und mir in aller Ruhe geschildert, was mit mir passiert ist. Während der ganzen folgenden Zeit war er mir eine sehr große Stütze. Aber auch andere Pflegekräfte sind zu wichtigen Bezugspersonen im Krankenhaus geworden.“ Stück für Stück kämpft sie sich zurück ins Leben, fängt wieder an zu sprechen und lernt mit Unterstützung eines Physiotherapeuten das Gehen neu. „Das erste Mal auf eigenen Beinen stehen. Sich selbst wieder die Nägel feilen. Eigentlich ganz banale Kleinigkeiten, aber für mich waren das unheimlich schöne Momente. Deswegen ver- binde ich auch heute nur positive Gedanken mit dem Krankenhaus.“ Nach dem Klinikaufenthalt geht es für Susanne Hutter in die Reha. Körperlich ist sie irgendwann wieder komplett hergestellt. Doch ihre Erinnerung an die Zeit vor dem Koma bleibt lücken- haft. Viele Jahre später, nachdem sie privat eine schwierige Zeit durchgemacht hat, kommt sie an einen Punkt im Leben, an dem sie nicht mehr weiter weiß. Sie holt sich Hilfe bei einer Trauma- therapeutin. Innerlich hatte sie das Koma zu diesem Zeitpunkt längst abgehakt. Doch in den Gesprächen mit der Therapeutin stellte sich heraus, dass es sie unbewusst immer noch belastete. „Wenn man von heute auf morgen so aus dem Alltag gerissen wird, kann man hinterher nicht einfach wieder anknüpfen“, sagt sie im Rückblick und betont: „Ich kann jedem, der durch eine schwere Krankheit ging, nur raten, sich therapeutische Hilfe zu holen.“ Durch die Therapie habe sie gelernt, das Koma als Chance zu ver- stehen: „Ohne diesen tiefen Einschnitt im Leben wäre ich heute nicht der Mensch, der ich bin: Ich lebe viel bewusster als vor dem Koma, kann Wichtiges besser von Unwichtigem unterscheiden.“ In der Therapie entstand auch die Idee, ihre Geschichte aufzu- schreiben. „Der Triumph aus meinem Schicksal“ ist der Titel des Buches, in dem sie über die Zeit im Klinikum Esslingen und ihren Lebensweg nach der Krankheit berichtet. Susanne Hutter, die heute in Südtirol lebt und als freie Journalistin und Autorin arbei- tet, will mit ihrer Geschichte anderen Menschen Mut machen. Letztes Jahr kam sie für eine Lesung zum ersten Mal ans Klini- kum Esslingen zurück. Eine zweite Veranstaltung ist in Planung. lj Mein zweites Leben 20. April 2021, 18.30 Uhr Lesung mit Susanne Hutter am Klinikum Esslingen Wie fühlt es sich an, wenn man nach sechs Wochen aus dem Koma erwacht? Susanne Hutter hat ein Buch darüber geschrieben. Ihr Weg zurück ins Leben begann am Klinikum Esslingen.

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