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Esslinger Gesundheitsmagazin
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Bei zehn bis 15 Prozent der Migränepatienten kommt es kurz
vor dem Beginn der Attacke zu einer Auraphase. „Dabei handelt
es sich um falsche Sinneswahrnehmungen“, erklärt Dr. Roth,
„das können Lichtblitze oder andere Sehstörungen sein oder
Taubheitsgefühle.“ Die Aura wird von Patient zu Patient ganz
unterschiedlich wahrgenommen. Ganz starke Ausprägungen
können halluzinatorischen Charakter haben und werden auch
als Alice-im-Wunderland-Syndrom bezeichnet. Sie treten
besonders häufig bei Kindern auf. Dabei erscheint alles verklei-
nert oder vergrößert, kann aber auch mit veränderter akusti-
scher Wahrnehmung, veränderter Tastwahrnehmung und einem
veränderten Zeitempfinden einhergehen. Angeblich litt Alice-
im-Wunderland-Autor Lewis Carroll selbst unter Migräne und
soll seine Erfahrungen in seinem Werk beschrieben haben.
Die Schmerzphase selbst kann zwischen vier und schlimmsten-
falls 72 Stunden dauern. Die heftigen Kopfschmerzen manifes-
tieren sich bei drei Viertel der Betroffenen halbseitig im Bereich
Stirn, Schläfe und Auge. Beim Rest – vor allem bei Kindern – ist
der gesamte Kopf betroffen. „Der pulsierende Schmerz verstärkt
sich typischerweise bei körperlicher Betätigung“, erläutert
Dr. Roth, „während Ruhe und Dunkelheit zur Linderung beitra-
gen.“ Fast alle Patienten könnenwährend der Attacke nichts essen,
den meisten ist schlecht oder sie müssen sich übergeben.
Ausgelöst wird Migräne durch bestimmte Schlüsselreize (Trig-
ger). Zu den häufigsten zählen Stress, unregelmäßiger Biorhyth-
mus mit Schlafmangel, aber auch zu viel Schlaf, bestimmte
Lebensmittel wie Rotwein oder Käse und Wettereinflüsse. „Bei
Frauen ist einer der wichtigsten Auslöser der Menstruations­
zyklus“, so Neurologe Dr. Roth.
Die Ursachen für Migräne sind nicht endgültig aufgeklärt. Wis-
senschaftler gehen davon aus, dass genetische Faktoren eine
Rolle spielen – oft sind nämlich mehrere Familienmitglieder
betroffen. Wahrscheinlich führt ein Ungleichgewicht von kör-
pereigenen Botenstoffen im Gehirn zu einer Beeinträchtigung
der Nervenfunktion (speziell im Bereich des Trigeminus-Nervs).
Dabei scheint ein Mangel an dem Botenstoff Serotonin eine
maßgebliche Rolle zu spielen. Dieser Mangel führt zu einer
gestörten Nerventätigkeit im Gehirn und zur Beeinträchtigung
der Blutgefäßfunktion im Kopfbereich. „Seit einigen Jahren ver-
fügen wir über Medikamente, die genau in diesen Wirkungs­
mechanismus eingreifen“, erklärt Dr. Roth. Die sogenannten
Triptane sind chemisch mit Serotonin verwandt. Sie binden sich
an die gleichen Rezeptoren an den Nerven und Blutgefäßen wie
der Botenstoff. Durch diese Bindung wirken die Triptane auf drei
Wegen gegen die Symptome der Migräne: Sie verengen die Blut-
gefäße und hemmen die Schmerzentstehung sowie die -wahr-
nehmung.
Von Triptanen bis zu Antidepressiva
Neben den Triptanen kann Migräne auch mit herkömmlichen
Schmerzmitteln aus der Gruppe der Nichtopioid-Analgetika wie
Aspirin, Paracetamol und Ibuprofen behandelt werden. Als wich-
tigste Grundregel in der Migräneakuttherapie gilt aber, dass die
Einnahme von Triptanen oder Schmerzmitteln maximal an zehn
Tagen pro Monat erfolgen sollte. Mit anderen Worten: An 20
Tagen pro Monat sollte keine Migräneakutmedikation verwen-
det werden. Bestehen Migränebeschwerden an einem 11., 12.
oder 13. Tag im Monat, muss der Patient diese Beschwerden
ohne Akutmedikation durchstehen, will er nicht das Risiko der
Entstehung von medikamenteninduzierten Kopfschmerzen ein-
gehen. „Wer mehrmals pro Monat Migräneattacken hat, für den
gibt es die Möglichkeit der vorbeugenden Behandlung“, erklärt
Dr. Roth. Die Medikamente, meist Beta-Blocker oder andere
Medikamente aus der Epilepsiebehandlung, müssen dann über
einen längeren Zeitraum täglich eingenommen werden. „Die
Attacken werden seltener und nehmen an Intensität ab“, so der
Neurologe, „bis hin, dass die Migräne gänzlich aus dem Schmerz-
gedächtnis gelöscht wird.“
Seit einiger Zeit werden auch Antidepressiva zur Vorbeugung
eingesetzt, vor allem bei Patienten, die durch die Kopfschmerzen
psychisch niedergeschlagen sind. Auch pflanzliche Wirkstoffe
können in der Migräneprophylaxe eingesetzt werden. Hier
scheint Petasites spissum, die Pestwurz, besonders wirksam zu
sein. In einer großen internationalen Studie konnte die Wirksam-
keit eines Spezialextraktes von Pestwurz (Handelsname:
Petadolex) in der Migräneprophylaxe bei insgesamt 202 Pati-
enten bestätigt werden.
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15 Prozent der Migräne-
patienten erleben kurz vor
der Attacke eine Aura. Das
kann zum Beispiel (Bild links)
eine optische Täuschung
sein, bei der die Umwelt an
den Rändern verschwimmt
Außergewöhnlich:
Migräne ohne Schmerzen
Ganz selten – und hier muss man Erich Kästner Recht geben
– gibt es die Migräne auch ohne Kopfschmerz. Dann treten
die Auren isoliert auf, es kommt zu neurol­ogischen Aus­fall­
erscheinungen. „Nicht selten landen diese Migränepatienten
mit Verdacht auf Schlaganfall in unserer Stroke Unit“, erzählt
Dr. Wolfgang Sperber, Chefarzt der Klinik für Neurologie und
klinische Neurophysiologie am Klinikum Esslingen. Isolierte
Auren korrekt als Migräne zu diagnostizieren sei schwierig,
weil die charakteristischen Kopfschmerzen fehlen. Immer
wieder werden Migränepatienten mit außergewöhnlich star-
kem Kopfschmerz im Klinikum stationär aufgenommen. „Um
eine Hirnblutung auszuschließen, wird in der Klinik ein Kopf-
CT oder auch ein MRT durchgeführt“, erklärt Dr. Sperber. Der
Patient bekommt eine Schmerztherapie und wird erforder-
lichenfalls an den Tropf gehängt.