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Esslinger Gesundheitsmagazin 29
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„Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich mich getraut haben,
mein Kind anzufassen“, erzählt die Mutter eines Frühgeborenen
und eine andere ergänzt: „Ich hatte einfach Angst, etwas kaputt
zu machen.“ Acht Mütter und ein Vater mit ihren Babys sind an
diesemMittwochvormittag ins Elterncafe gekommen, sitzen im
großen Kreis, um über ihre Erfahrungen zu berichten. Die Kinder
im Arm oder auf dem Schoß sind inzwischen aus dem Gröbsten
raus, die meisten aber immer noch ziemlich klein; denn alle sind
zu früh geboren – viel zu früh. „Eigentlich wäre meine Tochter
noch gar nicht auf der Welt, der errechnete Geburtstermin ist
erst der nächste Samstag“, erzählt eine der Mütter. Anfang
Dezember jedoch wollte das Kind schon auf die Welt, viel zu
früh und mit gerade mal 1.150 Gramm Geburtsgewicht. Sieben
Wochen lang wurde der kleine Mensch auf der neonatologischen
Intensivstation, der Spezialstation für Frühgeborene im Klinikum
Esslingen aufgepäppelt. Seit zwei Wochen sind Mutter und
Tochter inzwischen daheim. „Das ist heute der erste größere
Ausflug.“
Die Frühgeborenen-Station des Klinikums Esslingen gehört zum
Perinatalzentrum Level I und damit zur höchsten Stufe der medi-
zinischen Versorgung Frühgeborener. Hier dürfen auch sehr
kleine Frühchen unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht versorgt
werden. Voraussetzung dafür sind eine entsprechende Ausstat-
tung sowie Ärzte und Pflegekräfte mit viel Erfahrung. Mindes-
tens 14 Frühgeborene unter 1.250 Gramm pro Jahr müssen die
Zentren versorgen, um die Anerkennung als Level 1-Zentrum zu
erhalten. Im Klinikum Esslingen wurden im vergangenen Jahr 39
Frühgeborene unter 1.500 Gramm, darunter 29 unter 1.250
Gramm versorgt.
„Ab der 24. Schwangerschaftswoche stehen die Chancen heute
gut, dass die Frühgeborenen gesund überleben“, erläutert Klaus
Niethammer. Der leitende Oberarzt arbeitet seit über 30 Jahren
als Neonatologe im Klinikum Esslingen und verfügt über Erfah-
rungen in der medizinischen Versorgung der kleinsten Patienten
wie kaum ein anderer im Haus. So früh Geborene sind meist sehr
klein. „Das kleinste Frühchen, das wir bislang in Esslingen erfolg-
reich versorgt haben, kam 2016 mit nur 320 Gramm Geburts-
gewicht auf die Welt.“ Kinder, die vor der 22. Schwangerschafts-
woche geboren werden, haben kaum Chancen zu überleben. Bei
Frühgeborenen, die zwischen der 22. und 24. Woche zur Welt
kommen, wird es extrem schwierig. In diesem Schwanger-
schaftsalter haben die Eltern das Recht mit zu entscheiden, ob
versucht werden soll, ihr Kind intensivmedizinisch zu behandeln.
„Das kleinste Frühchen,
das wir bislang in
Esslingen erfolgreich
versorgt haben, kam
2016 mit nur 320
Gramm Geburtsgewicht
auf die Welt.“
Oft deutet sich eine Frühgeburt an, so dass die Schwangeren
rechtzeitig in ein Perinatalzentrum wie das im Klinikum Esslin-
gen verlegt werden können. Die optimale Versorgung erfordert
eine enge Zusammenarbeit mit der Geburtshilfe; oft kann die
Geburt noch einige Tage verzögert werden, immer erfolgt ein
ausführliches Gespräch mit den Eltern durch den Neonatologen.
„Nahezu zu 100 Prozent können wir dann die Lungenreife des
Kindes durch eine Cortisonprophylaxe unterstützen“, erläutert
Oberarzt Niethammer. „Optimal ist eine Cortisonspritze 48 Stun-
den und eine weitere 24 Stunden vor der Geburt.“ Bei der Geburt,
nicht selten durch Kaiserschnitt, sind die Neonatologen dann
immer dabei, leiten alle Behandlungsmaßnahmen vor Ort ein
und übernehmen das Frühgeborene auf die Intensivstation.
„Wann immer möglich, sollte noch im Kreißsaalbereich ein
Elternteil das Kind sehen, Körperkontakt aufnehmen und Infor-
mationen zum Geburtsverlauf erhalten.“
Die erste Begegnung ist meistens ein Schock
Die frühe Geburt und dann das eigene, so unglaublich kleine
Baby, angeschlossen an Kabel und Schläuche im „Brutkasten“,
dem Inkubator, zu sehen, ist für die Eltern meistens ein Schock.
„Unsere Tochter wurde am Ende der 24. Schwangerschaftswo-
che geboren und dann begann für uns eine sehr, sehr schwere
Zeit“, erzählt ein Vater. Wann immer es möglich war, waren seine
Frau und er in der Klinik bei ihrem Kind. „Immer wieder haben
uns die Ärzte und die Schwestern hier auf der Station eine große
Last von den Schultern genommen, uns gezeigt, dass es auf-
wärts geht und uns Mut gemacht.“ Besonders wichtig sei aber
auch der Austausch mit anderen Eltern gewesen, deren Kinder
gleichzeitig auf der Frühgeborenen-Station versorgt wurden.
„Was wir hier durchgemacht haben, können eigentlich nur Men-
schen wirklich nachempfinden, die das gleiche erlebt haben“,
berichtet der Vater weiter.
Denn nicht immer geht es nur aufwärts, vor allem die sehr klei-
nen, sehr früh Geborenen müssen immer wieder mit Komplika-
tionen kämpfen. „Bei unserem Kind trat plötzlich eine Gehirn-
blutung auf. Mehrmals musste Gehirnwasser mit einer Punktion
abgeleitet werden“, berichtet eine Mutter von dramatischen
Tagen und Wochen. „Bei unserem Sohn war eine Leistenbruch-
Operation nötig“, erzählt eine andere Mutter. „Und dann
reagierte er plötzlich mit einem allergischen Schock auf das
Narkosemittel und wachte nach der Operation verzögert auf.“
Die Eltern mussten das Schlimmste befürchten und dann
kämpfte sich der kleine Mensch doch wieder ins Leben zurück.
„Man bekommt mit, durch welche Hölle die Eltern in
„Ab der 24. Schwanger
schaftswoche stehen
die Chancen heute gut,
dass die Frühgeborenen
gesund überleben.“