1 2017
Esslinger Gesundheitsmagazin 33
umfasst heute drei eigenständige Berei-
che: Die Abteilung für Erwachsene mit 19
stationären Plätzen und 20 Behandlungs-
plätzen in der Tagesklinik, die Abteilung
für Jugendliche und junge Erwachsene
mit 14 stationären und zehn Tagesplätzen,
die auch Teil des Zentrums für Kinder- und
Jugendmedizin am Klinikum ist, und den
Psychosomatischen Konsiliar- und
Liaisondienst. Außerdem gibt es ambu-
lante Behandlungsmöglichkeiten. Jüngs-
tes „Kind“ ist seit 2013 die Trauma-Ambu-
lanz, bei der Opfer von sexualisierter,
häuslicher oder krimineller Gewalt Hilfe
finden. Sie ist eine von sechs derartigen
Einrichtungen in Baden-Württemberg.
Besondere Therapie
bei Essstörungen
Neben der Behandlung traumatisierter
Menschen, für die eine eigenständige
Tagesklinik eingerichtet wurde, gehören
Essstörungen, Depressionen und Angst-
störungen zu den Schwerpunkten der
Klinik. Aber auch Störungen der Krank-
heitsverarbeitung primär somatischer
Erkrankungen, Zwangserkrankungen,
Persönlichkeitsstörungen und akute Kri-
sen werden behandelt. Während sich die
Krankheitsbilder in den vergangenen
Jahrzehnten wenig verändert haben,
wandelten sich die Behandlungsmetho-
den deutlich. „Früher hat man eher
unspezifisch gearbeitet, heute behan-
deln wir wesentlich spezifischer, auf das
jeweilige Krankheitsbild zugeschnitten“,
so Dr. Nolting.
Gerade bei Essstörungen setze man in
Esslingen mit einer außergewöhnlich
intensiven Therapie Maßstäbe, sagt der
Facharzt. Insbesondere die Nähe zur Kin-
derklinik im Rahmen des Zentrums für
Kinder- und Jugendmedizin ist hierbei
sehr hilfreich, sodass auch Patientinnen
in massiv untergewichtigem Zustand
behandelt werden können. Zu mehrmals
wöchentlichen Einzelpsychotherapiege-
sprächen kommen Gruppenpsychothera-
piesitzungen. Doch es soll nicht nur um
Kopf und Verstand gehen. Deshalb bietet
die Klinik Musik-, Kunst- und Bewegungs-
therapie an. Jeder Patient hat nicht nur
„seinen“ Einzelpsychotherapeuten, son-
dern hat auch eine ihm zugeordnete Pfle-
gekraft. „Die Beziehungspflege schafft
einen vertrauensvollen Rahmen“, sagt
Edith Giese-Dinter. „Wir nehmen uns viel
Zeit, damit die Patienten über Schwierig-
keiten und Gefühle sprechen können. Das
wäre in anderen Abteilungen so nicht
möglich.“ In Beobachtungsprotokollen
halten Patienten mit zum Beispiel Panik
attacken fest, in welcher Situation die
Angst ausbricht, wie intensiv sie diese
erleben und welche körperlichen Reakti-
onen die Angst auslöst. Solche Aufzeich-
nungen ermöglichen es, Strategien zu
entwickeln, wie man sich in kleinen
Schritten der Angst stellen und sie über-
winden kann, erklärt Giese-Dinter.
Gearbeitet wird in multiprofessionellen
Teams. In regelmäßigen Teamsitzungen
bringen sich alle Mitarbeiter gleichbe-
rechtigt ein. „Wir arbeiten alle an einem
gemeinsamen roten Faden, dem Fokus
der Therapie“, betont Dr. Nolting. „Die
Psychosomatische Medizin ist Bezie-
hungsmedizin. Wir leben mit unseren
Patienten und begleiten sie teilweise über
Monate“, erklärt Dr. Nolting. Dass dies
auch schwere Momente beinhaltet, ver-
schweigt er nicht: „Manchmal geht es um
die Abgründe menschlichen Lebens, das
geht einem nahe.“ Umso wichtiger sei
nicht nur die Supervision, sondern auch,
„dass wir die Patientenschick sale
gemeinsam tragen“.
Leistungsdruck schlägt
auf die Seele
Die Zahl psychischer Erkrankungen und
damit auch der Bedarf an psychosomati-
scher Medizin ist in den vergangenen fünf
Jahrzehnten nicht zuletzt wegen des grö-
ßeren Drucks der Leistungsgesellschaft
gestiegen. „Die Psychosomatische Medi-
zin hat dadurch einen höheren Stellen-
wert bekommen“, sagt Dr. Nolting. Jeder
zweite Mensch bekomme in seinem Leben
eine behandlungsbedürftige psychische
Erkrankung und jeder dritte Patient
komme wegen psychosomatischer
Beschwerden zum Allgemeinmediziner.
„Bald wird die Depression die Volkskrank-
heit Nummer eins. Wegschauen nutzt
nichts.“ Dennoch sind psychische Erkran-
kungen immer noch ein gesellschaftliches
Tabuthema und mit einem Stigma belegt.
Vielen Patienten schlägt Unverständnis
entgegen. „Iss doch endlich was“, hören
magersüchtige Patientinnen, „reiß dich
zusammen“, wird Menschen mit Depres-
sionen geraten. Das mache oft alles noch
viel schlimmer, sagt Dr. Nolting. „Das
Thema ist immer noch für viele ein Tabu“,
registriert Giese-Dinter nur geringe Ver-
besserungen der öffentlichen Wahrneh-
mung von psychisch bedingten Krankhei-
ten. Umso wichtiger sei die Aufklärung,
„dass dies echte Krankheiten sind und
nichts mit Einbildung oder Schwäche zu
tun haben“. Zwiespältig sieht Dr. Nolting
die „Modekrankheit Burn-out“. Meist ste-
cke eine Depression dahinter. „Aber Burn-
out klingt nach den Starken, die bis
zuletzt gekämpft haben. Der einzige Vor-
teil ist, dass die Gesellschaft dadurch psy-
chosomatische Erkrankungen mehr in den
Blick genommen hat.“
Sorge bereitet Dr. Nolting, dass ab 2018
auch in der Psychosomatischen Medi-
zin und Psychiatrie Fallpauschalen ein-
geführt werden. „Ich fürchte, dass dies
zu massiven Einschränkungen wie einer
kürzeren Verweildauer und weniger
intensiver Behandlung führt.“ Doch
psychische Erkrankungen könne man
nicht nach Stoppuhr therapieren. „Die
Patienten brauchen Zeit, sich mit sich
selbst und ihrer Krankheit auseinander-
zusetzen.“
urh
Klinik für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie
Chefarzt Dr. Björn Nolting
Telefon 07113103-3101
psychosomatik@
klinikum-esslingen.de„Wir nehmen uns viel Zeit,
damit die Patienten über
Schwierigkeiten und Gefühle
sprechen können.“




